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Der deutsche und schweizerische Handel haben in Sachen Digitalisierung noch Nachholbedarf, wie eine Studie offenlegt. Bei Innovation und Kundenorientierung steht die digitale Transformation noch am Anfang.
Viele Unternehmen stecken mitten in der digitalen Transformation. Dies bestätigt der aktuelle «Digital Maturity & Transformation Report», der neben anderen Branchen auch Handelsunternehmen aus Deutschland und der Schweiz auf ihre digitale Reife hin untersucht hat. Das Thema ist brandaktuell: «In diesem Jahr kamen auf unseren Fragebogen so viele Rückmeldungen wie noch nie», sagt Dr. Andrea Back, die als Professorin an der Universität St. Gallen und Direktorin des Instituts für Wirtschaftsinformatik IWIHSG den Report miterstellt hat.
Die Händler kennen ihre Defizite
Der digitale Reifegrad wird anhand von neun Dimensionen (s. Infografik) ermittelt. Der durchschnittliche Reifegrad der 452 von der Studie erfassten Unternehmen fällt zwar etwas höher aus als 2016, aber die Zahl der Unternehmen mit einem unterdurchschnittlichen Reifegrad ist immer noch mehr als dreimal so gross wie die der überdurchschnittlich guten. Und: Die geringsten Reifegrade weisen Unternehmen aus dem Gross- und Einzelhandel auf. Deren Ergebnisse sind sogar gegenüber dem Vorjahr zurückgefallen. Die Verantwortlichen in den 44 befragten Handelsunternehmen scheinen die eigene Lage realistisch einzuschätzen. So liegt der Anteil derer, die sich selbst als überdurchschnittlich aktiv einschätzen, im Handel nur bei 46 Prozent.
Die Mehrheit der deutschen Handelsunternehmen konzentriert sich bei ihren Massnahmen auf eine weitere Verbesserung ihrer digitalen Kundenschnittstelle. Diese spielt eine zentrale Rolle in der Digitalisierung und wird in vielen Unternehmen auch in hohem Masse von den veränderten Anforderungen der Kunden angetrieben. Zudem fällt auf, dass in deutschen Handelsunternehmen die Befragten überdurchschnittlich stark auf den sogenannten «Top-down-Ansatz» setzen, bei dem die Entwicklung der Strategie an erster Stelle steht. Die Studie zeigt deutlich, dass deutsche Händler künftig in erster Linie Projekte in der Dimension Customer Experience vorantreiben wollen.
Hierzu nennen die Teilnehmenden die Professionalisierung von Online-Marketing-Aktivitäten oder auch Massnahmen im Bereich Social Media. Aktivitäten bei der Produktinnovation, Prozessdigitalisierung und beim Transformationsmanagement werden in Zukunft ebenfalls eine grössere Rolle spielen. Weniger relevant werden dagegen Projekte zur Erstellung einer digitalen Strategie oder zur Veränderung von Teamstrukturen innerhalb der Organisation sein (mehr Details dazu auf S. 14 INFO).
Customer Experience gefragt
Schweizer Unternehmen aus dem Handel und der Konsumgüterwirtschaft zeigen im Vergleich zum Gesamtfeld der Teilnehmenden die niedrigsten Reifegrade. Auffällig aus Sicht der Studienautoren sind die geringen Erfüllungsgrade in der Dimension Customer Experience, «da Kriterien wie die Auswertung von digitalen Interaktionsdaten oder die Entwicklung eines kanalübergreifenden Experience Designs gerade im Handel eine grosse Rolle spielen». Aber auch in den Dimensionen Strategie, Produktinnovation und Transformationsmanagement sind die Unterschiede zu anderen Branchen besonders hoch. In der Frage, wie Schweizer Händler die digitale Transformation anpacken, zeigt sich kein einheitliches Bild. «Viele Teilnehmende (18 %) wissen auf diese Frage auch keine Antwort », heisst es in der Studie.
Auch der hohe Anteil an Schweizer Handelsunternehmen, die einen so genannten «Bottom-up»-Ansatz verfolgen, zeigt, dass bei ihnen die digitale Transformation nur in geringem Masse ein von Beginn an strategisch geplanter sowie gesteuerter Prozess ist. Beim «Bottomup»-Ansatz entstehen an verschiedenen Stellen im Unternehmen digitale Initiativen, die erst nach einer gewissen Zeit zusammengeführt und dann in einer gemeinsamen Strategie konsolidiert werden. Auch ein innovationsfokussierter Ansatz, welcher sich durch eine frühe Experimentierfreude mit den neuen Technologien auszeichnet, wird dabei nur selten beobachtet.
Nachhaltiger Wandel nicht als Muss erkannt
Immerhin: Für Schweizer Handelsunternehmen steht – wie auch in Deutschland – das Thema Customer Experience in Zukunft an oberster Stelle. 65 Prozent der Teilnehmer geben an, dass in diesem Bereich in den nächsten zwei Jahren mit Priorität Aktivitäten vorangetrieben werden.
Auch die Prozessdigitalisierung steht weiterhin klar im Fokus. Abnehmen wird dagegen vor allem die Priorisierung von Initiativen zur Organisations-Struktur und Strategie-Definition. Zu denken gibt dieses Statement aus einem Schweizer Handelsunternehmen: «Innovation hat nur unter dem Aspekt Kostendruck eine hohe Priorität. Nachhaltiger Wandel wird nicht als Muss erkannt.»