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Schwindende Ackerflächen, wachsende Bevölkerung und Klimawandel: Das MARKANT Magazin berichtet darüber, was es für eine nachhaltige Ernährung braucht und wie sich eine Ernährungskrise abwenden lässt.
Wetterextreme, Klimawandel, zunehmender Verlust von fruchtbaren Böden und Rückgang von Artenvielfalt - dies alles setzt der Lebensmittelerzeugung immer mehr zu. Anfang August meldete Hengstenberg, dass die Wetterbedingungen in diesem Sommer bis dato für eine durchwachsene Gurkenernte sorgen. Der Rohwarenmarkt sei angespannt. Hinzu käme seit Jahren rückläufige Anbauflächen und schwindende Mengen. Die Wetter-Extreme mit langanhaltender Hitze und viel zu wenig Niederschlag drohen sich auch in diesem Jahr negativ auf die Ernte von Chips-Kartoffeln auszuwirken, dies meldete Mitte August der Bundesverband der Deutschen Süsswarenindustrie (BDSI). In einer Zwischenbilanz zur angelaufenen Ernte rechnen Landwirte erneut mit um bis zu 50 Prozent verringerten Erträgen bei den Kartoffelsorten für die Chips-Herstellung. Nach dem Dürrejahr 2018 konnten sich die Felder nicht ausreichend erholen – deshalb sind die Böden jetzt in vielen Regionen Deutschlands noch trockener. Dies hat bereits zu Einbussen bei der Frühkartoffelernte geführt.
Verlust landwirtschaftlicher Flächen
Fakt ist: Die landwirtschaftlich genutzten Flächen in Deutschland werden von Jahr zu Jahr weniger. Laut Statista wurden im Jahr 2018 rund 16,65 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzt, im Jahr 2000 waren es 17,067 und 1995 sogar noch 17,344 Millionen Hektar. Der Anteil der Landwirtschaft sinkt langsam, während die Flächen für Siedlungen und Verkehr anwachsen. Gerade im Umland der städtischen Siedlungsräume ist der Verlust landwirtschaftlicher Flächen zu spüren.
Weltweit gehen laut dem Umweltbundesamt jährlich etwa zehn Millionen Hektar Ackerfläche verloren – dies entspricht einer Fläche von rund 14 Millionen Fussballfeldern. Ein Viertel der globalen Bodenfläche enthält heute schon deutlich weniger Humus und Nährstoffe als noch vor 25 Jahren oder lässt sich gar nicht mehr als Ackerland nutzen. Wesentliche Ursachen sind die Landgewinnung durch Abholzung, Brandrodung, Umbruch und eine intensive, nicht standortangepasste Landwirtschaft.
1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittelverluste
Aber auch die Verschwendung beziehungsweise der Verlust von Lebensmitteln zählen zu den Faktoren, die die Ernährungssicherheit negativ beeinflussen. So schätzt die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dass weltweit jährlich etwa 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel verloren gehen. In Deutschland gehen laut einer Studie des WWF über 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel verloren. Über die Hälfte dieses Verlustes wäre laut der Organisation vermeidbar. «Dafür werden umgerechnet rund 2,6 Millionen Hektar wertvoller landwirtschaftlicher Nutzfläche für die Tonne bewirtschaftet», so der WWF. Über 60 Prozent der Verluste entstehen entlang der Wertschöpfungskette – vom Produzenten bis hin zum Grossverbraucher, ungefähr 40 Prozent haben die Privathaushalte zu verantworten.
Auf europäischer Ebene wird laut einer Meldung von Statista derzeit überlegt, das Abfallaufkommen bei Lebensmitteln durch bessere Angaben zur Haltbarkeit zu reduzieren, und praktisch unverderbliche Lebensmittel wie zum Beispiel Trockenteigwaren ganz von der Kennzeichnungspflicht auszunehmen. Rund die Hälfte der Befragten einer im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführten Umfrage gab an, dass ihnen klare Angaben zur Haltbarkeit helfen würden, weniger Lebensmittel zu verschwenden.
Wachsende Weltbevölkerung
Gleichzeitig wird die Weltbevölkerung von heute 7,7 Milliarden Menschen auf 9,7 Milliarden im Jahr 2050 und auf 10,9 Milliarden im Jahr 2100 anwachsen. Das geht aus den neuesten Weltbevölkerungsprojektionen der Vereinten Nationen hervor. Das starke Bevölkerungswachstum bringt damit auch einen erhöhten Lebensmittelbedarf mit sich. Bis zur Jahrhundertmitte wird sich laut Experten die Nachfrage nach Agrarprodukten im Schnitt um 50 Prozent im Vergleich zu 2013 erhöhen. Das starke Bevölkerungswachstum bringt damit auch einen erhöhten Lebensmittelbedarf mit sich, während die Anbauflächen und Erträge global zurückgehen.
Angesichts dieser Fakten stellt sich die Frage: Sind wir auf dem Weg in eine Ernährungskrise? «Die Landwirtschaft erzeugt weltweit genug Lebensmittel, um alle Menschen zu ernähren. Die schlechte Nachricht: Wir zerstören dabei leider gleichzeitig unseren Planeten und damit die Grundlage der Nahrungsmittelproduktion. Die konventionelle Landwirtschaft trägt wesentlich zur Klimaerwärmung bei, ist Mitverursacherin des globalen Insektensterbens und zerstört die Regenwälder. Es braucht deshalb dringend einen Kurswechsel», glaubt Martin Grossenbacher, Leiter Kommunikation Biovision, Stiftung für ökologische Entwicklung.
Krise des Ernährungssystems
Eine andere Sicht auf die Dinge hat Dr. Hans Dreyer, Director FAO Plant Production and Protection Division: «Ich würde eher von einer Krise des Ernährungssystems sprechen. Es gibt weltweit nicht zu wenig Nahrungsmittel. Die Menschen ernähren sich nur zunehmend falsch. Mehr als 600 Millionen Menschen leiden an Fettleibigkeit, während 800 Millionen Menschen an Hunger leiden. Das heutige Ernährungssystem ist einfach nicht mehr nachhaltig.» Doch während der Hunger auch aufgrund der Erderwärmung langsamer abnimmt, steigt gleichzeitig das Überangebot an Kohlenhydraten, Fett und Zucker auf den Tellern der meisten Regionen an. Der Ressourcenverbrauch befeuert wiederum den Klimawandel.
Dieses Nebeneinander von Hunger und Übergewicht zeigt, dass es weltweit nicht zu wenig Nahrungsmittel gibt, erklärt dazu auch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), weist aber auf Probleme hin: «Es wird jedoch zunehmend deutlich, dass der Klimawandel, Wetterextreme, dadurch bedingte Wanderungsbewegungen, aber vor allem auch die wachsende Weltbevölkerung die Versorgung der Menschen mit ausreichender und gesunder Nahrung weltweit wesentlich erschwert.»
Gezielte Vorbereitung auf Klimaeinflüsse
In dem Kontext lautet die Herausforderung: «Mehr Nahrungsmittel auf einem begrenzten Boden erzeugen und Ernten im Lichte des Klimawandels sichern, ohne unsere Ressourcen zu überfordern.» Dr. Hans Dreyer, Director FAO Plant Production and Protection Division rät: «Die Produktivität der bestehenden Ackerflächen muss verbessert werden, und zwar auf eine nachhaltige Art und Weise. Ferner gilt es, auf Diversifikation zu setzen, um die Bodenfruchtbarkeit sicherzustellen.» Auch Biovision sieht dies als einen Weg aus der Misere: «Es gilt, das Wissen der Bäuerinnen und Bauern über ökologische Zusammenhänge zu verbessern. So können sie sich gezielter auf Klimaeinflüsse vorbereiten und mit wirksamen Methoden darauf vorbereiten. Dazu gehören unter anderem eine diversifizierte Produktion, eine effiziente aber nachhaltige Ressourcennutzung und eine clevere Kreislaufwirtschaft, wie sie auch in der Agrarökologie bekannt sind.»
Investition in integrierte Systeme
Dr. Dreyer sieht darüber hinaus auch in der Integration des Forstsektors in den Landwirtschaftssektor einen Weg, die Produktion nachhaltig zu verbessern, da dies stabilisierend gegenüber den Wetterextremen wirke. «Ich denke, dass wir zukünftig mehr in integrierte Systeme investieren und auch hierfür die Produzenten gewinnen müssen.» Dazu sei aber auch die Kommunikation mit dem Verbraucher erforderlich. Denn dieser kaufe im Supermarkt die Produkte und leiste damit indirekt einen Beitrag zur Umwelt. Das bedeute allerdings auch, dass sich die Lebensmittel verteuern würden. «Wenn die Nahrungsmittel teurer werden, dann wird dies zwar für das Individuum etwas teurer, aber nicht für die Gesellschaft. In dem Kontext könnte ich mir auch gut vorstellen, dass die Verbraucher weniger Steuer zahlen. Denn vielfach werden Steuergelder eingesetzt, um die Umwelt quasi wieder instand zu bringen», erläutert Dr. Dreyer.
Bewusstseinsbildung auf allen Stufen
Hier gehe es um Bewusstseinsbildung – und zwar auf allen Stufen. Dreyer nennt dafür ein konkretes Beispiel: Man müsse zeigen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass die Banane im Supermarkt weniger kostet als ein Apfel, der in der Region produziert worden ist. Der Preis spiegle oftmals nicht die tatsächlichen Kosten wider. Dem fügt Martin Grossenbacher von Biovision hinzu: «Konventionell angebaute Nahrungsmittel sind im Vergleich zu biologischen heute viel zu billig, denn sie werden von den Steuerzahlern massiv quersubventioniert. Die konventionelle Landwirtschaft verursacht weltweit Folgekosten in Milliardenhöhe, die sie nicht selber trägt, beispielsweise durch den Einsatz von Pestiziden, Herbiziden und deren Auswirkungen auf Bodenabbau und -verarmung, Artenverlust, Wasserverschmutzung, ernährungsbedingte Krankheiten und Klimawandel.» Das würde sich drastisch ändern, wenn die tatsächlichen Kosten, welche die industrielle Landwirtschaft erzeuge, in den Preis der Lebensmittel einfliessen würden. «Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO schätzt, dass sich die verborgenen Umwelt-Kosten der Nahrungsmittelproduktion pro Jahr auf 2,1 Billionen US-Dollar belaufen. Die verborgenen Sozial-Kosten sind mit 2,7 Billionen USD sogar noch höher», so Grossenbacher weiter.
Nahrung aus dem Labor
Somit stellt sich die Frage, ob die Landwirtschaft der Zukunft in urbanen Nahrungsmittel-Laboren stattfindet. Nahrung per 3-D-Drucker zu produzieren und auch In-Vitro-Fleisch könnten dazu beitragen, die Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Allerdings ist Essen weit mehr, als nur die reine Aufnahme von Kalorien und Vitaminen. «Essen ist stark soziokulturell geprägt, von daher werden künftig auch weiterhin der Geschmack, das Aussehen und das soziale Miteinander beim Essen eine wichtige Rolle spielen», so das BMEL. Innovationen bei der Herstellung könnten daher Teil neuer Ernährungsformen werden, vorausgesetzt sie überzeugen die Verbraucher.
Nahrung aus dem Labor könnte durchaus ein Teil des Essens der Zukunft sein – so die Ansicht von Dr. Hans Dreyer. «Ich denke, dass es aber auch wichtig ist, dass man in Zukunft auch die Freiheit hat zwischen verschiedenen Herkünften wählen zu können. Wichtig ist, dass das Essen schmeckt. Essen ist nicht nur die reine Kalorienaufnahmen, Essen hat auch was mit Genuss zu tun».
Urban Farming
Ein weiterer Ansatz könnte Urban Farming sein, also die Erzeugung von Nahrungsmitteln in der Stadt. Dies bietet einige Vorteile: kurze Transportwege, Nutzung von Abwärme, transparente Produktion. In der Realität stehen jedoch die Produktionsanlagen in Flächenkonkurrenz zu anderen urbanen Nutzungen, die aus Kostensicht in der Regel den Vorzug erhalten – so eine Beurteilung des BMEL. Eine unterirdische Produktion sei energieaufwendig, weswegen es bislang weltweit nur wenige Pilotanlagen gebe und auch auf Dachflächen könne durchaus Produktion betrieben werden, wie es zum Beispiel in New York geschieht. «Alle bisherigen Urban-farming-Projekte sind jedoch von ihrem Produktionsumfang her nicht in der Lage, eine flächendeckende Versorgung aufzubauen», berichtet das BMEL.
Konsumbewusstsein fördern
Es gilt, die Zukunft nachhaltig zu gestalten. Deshalb sind nach Ansicht des BMEL Innovation und Forschung so wichtig, um die Landwirtschaft gleichzeitig effizienter und nachhaltiger zu machen. Digitale Lösungen, Pflanzenschutz und moderne Züchtung spielen dabei eine wichtige Rolle. Vor allem aber ist eine gezielte Kommunikation mit dem Verbraucher und die Förderung eines nachhaltigen Konsumbewusstseins bedeutend, um das Ziel zu erreichen. Die tatsächliche Herausforderung liegt laut Grossenbacher darin, das persönliche Verhalten der Mehrheit der Konsumenten zu ändern, sodass sie vermehrt nachhaltig einkaufen. Das Projekt «CLEVER-Konsumieren» von Biovision gebe hierzu praktische Hinweise und zeigt auf spielerische Art, wo beim persönlichen Einkauf das grösste Verbesserungspotenzial liegt.
Sichere und gesunde Lebensmittel
Wir alle wollen sichere und gesunde Lebensmittel, die möglichst nachhaltig erzeugt und bezahlbar sind. Indes bestehen die Lebensmittelauswahl und der Umgang mit Lebensmitteln im Alltag aus sehr vielen Entscheidungen. Daher sieht Dr. Hans Dreyer Verbraucher und Handel gleichermassen in der Pflicht: Wo kaufe ich meine Produkte? Wie sind sie hergestellt? Wie umwelt- und sozialverträglich sind sie? Es sei eine ganzheitliche Denk- und Betrachtungsweise nötig, die eben auch die sozialen Aspekte der landwirtschaftlichen Produktion miteinbeziehe. «Die Agrarökologie ist eines der möglichen Bezugssysteme, die wir haben, um auch den Handel anzusprechen», so Dr. Dreyer. Es sei von grosser Relevanz, dass sich der Handel dafür interessiere. Nicht weil dies in der Produktion zunehmend zum Thema werde, sondern aus eigenem Interesse. Denn damit könne er eine zunehmend anspruchsvolle Konsumentenschaft in grösseren Städten ansprechen.
«All diese Entscheidungen bewusst zu kontrollieren, sich bewusst und unter Abwägung potenzieller Konsequenzen zu entscheiden, wann, was, wieviel, wie schnell, wo und mit wem wir essen, ist in einem Alltag, der vielfältige Anforderungen an uns stellt, eine grosse Herausforderung», erklärt das BMEL. Eine zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung spiele dabei die Wertschätzung für unsere Mittel zum Leben – so das BMEL. Denn was man wertschätzt, wirft man nicht weg.
Dies fördert nicht nur eine gesunde und nachhaltige Ernährung, sondern trägt auch zu einer steigenden Individualisierung des Produktangebots bei, was dem Handel wiederum attraktive Chancen bietet. Die Anuga ermöglicht aktuell dazu Einblicke in diese Konzepte und liefert darüber hinaus Lösungsansätze, wie der Handel sich auf dieses Thema vorbereiten kann.