Altersarmut kommt nicht in die Tüte

Montag, 28. März 2022
Foto: Unternehmen

Altersarmut ist allgegenwärtig – allein in Deutschland  sind 24 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Carina Raddatz engagiert sich aktiv gegen Altersarmut und hat daher den Verein Obstkäppchen gegründet. Das Markant Magazin hat mit der Initiatorin über ihre Motivation und Vision eines «modernen Märchens» gesprochen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich aktiv gegen Altersarmut zu engagieren und in dem Kontext den Verein Obstkäppchen zu gründen?
Carina Raddatz:
In 2017 bin ich durch die Kölner Strassen gelaufen und habe eine alte Dame dabei gesehen, wie sie im Müll nach Pfand suchte. Dieses Bild haben wir alle wahrscheinlich schon öfters gesehen, aber diese Begegnung hat mich ganz besonders berührt, weil diese Dame sehr viel Ähnlichkeit mit meiner bereits verstorbenen Grossmutter hatte. Diese Begegnung hing mir noch lange nach, deshalb begann ich mich intensiv mit Altersarmut zu beschäftigen. Je mehr ich recherchierte, desto mehr regte sich in mir der Wunsch, etwas gegen diese für mich absolut inakzeptable Lebenssituation der betroffenen Senioren zu unternehmen. Ich lernte, dass eine Konsequenz der Altersarmut eine oftmals weder gesunde noch ausgewogene Ernährung ist – wie soll diese auch möglich sein, wenn das Geld vorne und hinten nicht ausreicht. So kam ich auf die Konzeptidee von Obstkäppchen und gründete den Verein im Sommer 2017 gemeinsam mit Freunden.

Woher kommt der Name?
Carina Raddatz:
Der Name Obstkäppchen ist angelehnt an
die Geschichte des Rotkäppchens von den Gebrüdern Grimm, welches sich aufmachte, um Lebensmittel zu seiner Grossmutter zu bringen. Dabei wurde es auf dem Weg mit dem bösen Wolf konfrontiert, den wir in unserem Falle symbolisch für die Gefahr der Altersarmut sehen. Im Gegensatz zum klassischen Märchen bekommen unsere Senioren allerdings gesunde Lebensmittel vorbeigebracht, die sie sich oftmals gar nicht mehr leisten können. So wird aus dem «Rotkäppchen» ein «Obstkäppchen».

Welche Vision verfolgen Sie damit?
Carina Raddatz:
Bei Obstkäppchen engagiere ich mich, weil ich es als unsere gesellschaftliche Aufgabe sehe, nach links und rechts zu schauen und Mitbürgern zu helfen, denen es aktuell nicht so gut geht. Diese Menschen haben ihr ganzes Leben lang gearbeitet und auch uns jüngeren Generationen viele Wege geebnet und ermöglicht. Ich möchte nicht dabei zusehen, wie sie nun im Alter abgehängt und vergessen werden. Bei Obstkäppchen geht es uns auch nicht nur um eine Unterstützung im Bereich Lebensmittel und gesunde Ernährung. Bei unseren Besuchen haben wir gemerkt, dass die gemeinsamen Gespräche, gemeinsam verbrachte Zeit und entgegengebrachtes Interesse mindestens genauso wichtig für unsere Senioren sind. Mit unserer Tütenlieferung setzen wir uns also nicht nur gegen Altersarmut ein, sondern wirken vor allem auch der Alterseinsamkeit entgegen.

Worin lag für Sie die grösste Herausforderung, Obstkäppchen zu gründen?
Carina Raddatz:
Die grösste Herausforderung war, genug Mut zu fassen und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Anfangs wurde meine Idee oft belächelt oder als ganz niedlich abgetan – niemand ausserhalb des Gründerteams hat wirklich daran geglaubt, dass die ganze Geschichte so gross werden könnte. Wenn ich mir nun die einzelnen Stationen auf unserem Weg anschaue, bin immer wieder dankbar dafür, wie weit Obstkäppchen jetzt schon gekommen ist.

Was verbirgt sich hinter dem Konzept Obstkäppchen?
Carina Raddatz:
Wir unterstützen Senioren, die von Altersarmut und Alterseinsamkeit betroffen sind. Dies tun wir, indem wir sie zu festen Zeiten im Monat mit einer Tüte voller Lebensmittel bei einer gesunden Ernährungsweise unterstützen und gleichzeitig im Rahmen der Besuche Zeit mit den Senioren verbringen. Die Tüten werden von einem Ernährungsberater zusammengestellt, der den Inhalt auf die Bedürfnisse der Senioren abstimmt. Gepackt und ausgetragen werden sie von den rund 80 ehrenamtlichen Mitarbeitern, die einen diversen und bunten Querschnitt der Gesellschaft darstellen. Vom Kleinkind bis zur Schülerin über die Studentin, den Familienvater und die Seniorin ist alles in unserem Team zu finden.

Wer sind die Empfänger dieser Obstkäppchen-Tüten?
Carina Raddatz:
Die Tüten erhalten Senioren, die ihr 65. Lebensjahr erreicht haben und auf Grundsicherung angewiesen sind. Die Bedürftigkeit der einzelnen Personen prüfen wir mit Hilfe von unseren Partnern, wie zum Beispiel den Sozialämtern oder der AWO in Köln. Diese geben unsere Anmeldeformulare an von Altersarmut betroffene Senioren weiter, welche sich dann kostenlos bei uns anmelden können. Nach dem ersten Kennenlern-
anruf sind sie dann automatisch in unserem System und werden jeden Monat aufs Neue beliefert.   

Woher beziehen Sie die Lebensmittel und wie funktioniert die Logistik?
Carina Raddatz:
Die Lebensmittel für die Tüten kaufen wir aktuell noch selbstständig in Supermärkten ein. Vor jedem Ausliefern wird also ein Grosseinkauf getätigt. Um nicht in die Gefahr zu kommen, dass die Kühlkette unterbrochen wird, werden keine zu kühlenden Lebensmittel in die Tüten für die Senioren gepackt. Alle weiteren Lebensmittel werden aktuell noch in einer kleinen Lagerhalle verwahrt oder direkt (z. B. Obst und Gemüse) am Tag des Erwerbs an die Senioren verteilt. Hier sind wir natürlich immer auf der Suche nach Unterstützern aus dem Lebensmittelsegment, die gemeinsam mit uns ein Zeichen gegen Altersarmut und Alterseinsamkeit setzen möchten und uns dabei helfen würden, diesen Prozess zu optimieren.

Wie finanziert sich der Verein Obstkäppchen?  
Carina Raddatz:
Wir finanzieren uns durch Mitgliedsbeiträge, Privatspenden und Unternehmenskooperationen. Um langfristig wachsen und weitere Standorte eröffnen zu können, brauchen wir allerdings weitere Sponsoren, die uns auf unserer Mission begleiten möchten.

Liefern Sie nur Lebensmittel aus oder auch bereits zubereitete Gerichte?
Carina Raddatz: Aktuell liefern wir nur Lebensmittel aus und keine schon zubereiteten Gerichte. In unseren Tüten ist jeden Monat ein Rezept enthalten, welches die Senioren mit Teilen des Tüteninhalts nachkochen können. Dies machen wir bewusst so, weil wir die Belieferten so immer wieder mit neuen Rezeptideen versorgen und sie zum Kochen bringen können. Sie bleiben aktiv, lernen neue Zutaten und Rezepte kennen und können die übrigen nicht verkochten Lebensmittel zu ihren Vorräten packen.

Wie sehen Ihre Pläne in der Zukunft aus?
Carina Raddatz:
Aktuell ist Obstkäppchen in Hennef, Köln, Königswinter, Münster und Dortmund aktiv. Im Frühjahr startet die Initiative auch in Bonn und Ahrweiler, weitere Städte sind bereits in Planung.

News

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Steckbrief

Carina Raddatz hat Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Fresenius in Köln studiert. Danach hat die 30-Jährige ihr Wissen vertieft und sich für das Studium «International Relations» mit Schwerpunkt Menschenrechte an der Nottingham Trent University entschieden. Ihre ersten beruflichen Erfahrungen machte sie nach dem Abschluss ihres Studiums als Consultant bei Robert Half in Bonn. Danach folgten Stationen als HR Manager sowie als Head of HR bei factor-a in Köln und anschliessend als Head of HR bei VAPA GmbH, ebenfalls in Köln. Neben ihrem Beruf doziert Raddatz seit 2019 im Bereich Allgemeine Psychologie an der Hochschule Fresenius in Köln.
 
Seit 2017 ist sie Gründerin und Vorstand von Obstkäppchen e. V. in Hennef, seit 2020 bis heute Geschäftsführerin Obstkäppchen gUG in Köln.

Fakten

80 Ehrenamtliche engagieren sich in verschiedenen Städten für Obstkäppchen.
Quelle: Obstkäppchen

24 Prozet der deutschen Bevölkerung ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.
Quelle: Destatis

22,4 Prozent der deutschen Bevölkerung im Alter von 80 Jahren und älter sind von Einkommensarmut betroffen. Damit verfügen die Betroffenen über ein maximales Einkommen von 1167 Euro im Monat. In der Gesamtbevölkerung liegt diese Quote bei 14,8 Prozent.
Quelle: Bundesseniorenministerium, Studie "Hohes 0Alter in Deutschland" (D80+)  .