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Aktuell ist das Thema Metaverse in aller Munde. Es scheint so, dass Unternehmen und Marken gleichermassen in die virtuelle Realität vordrängen. Das EHI hat nun in einer Studie das Thema aus Sicht deutschsprachiger Handelsunternehmen analysiert. Im Fokus standen grundlegende Fragen nach Nutzenpotenzial, Anwendungsmöglichkeiten sowie das Thema Relevanz.
Als erster Lebensmitteleinzelhändler ist Kaufland Anfang 2022 Teil des weltweit erfolgreichen Video-Spiels «Animal Crossing: New Horizons» geworden. Auf einer von Tieren bewohnten Insel, der «Kaufisland», erkunden Spieler die Welt eines Lebensmittelmarktes. Dem Markant Partner ist es damit gelungen, eine eigene virtuelle Kaufwelt zu erschaffen und diese erfolgreich mit dem Thema Nachhaltigkeit zu verknüpfen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Spielerei, sondern um wirksames Marketing und den ersten Schritt des Händlers ins Metaverse (mehr Infos dazu auf Seite 12).
«next big thing»
Es erweckt den Eindruck, dass Unternehmen und Marken die virtuelle Realität für sich gewinnen wollen. Über digitale Shops und Produkte versprechen sie sich nicht nur mehr Bekanntheit zu erlangen, sondern auch konkreten Umsatz. So ist es nicht verwunderlich, dass das Metaverse mit seinen Features Dreidimensionalität, Persistenz, Echtzeit und Interoperabilität als «nächste logische Stufe des Internets» und als «next big thing» angesehen wird. Davon ist auch die Mehrheit der Handelsunternehmen überzeugt, die das EHI Retail Institute in der Studie «Metaverse im Handel» dazu befragt hat. «Sechs von zehn Befragten glauben, dass sich Metaverse durchsetzen wird. Die Bedeutung innerhalb der Handelsunternehmen wird vermutlich in den nächsten fünf bis zehn Jahren zunehmen. Dabei überrascht es, dass schon in fünf Jahren gut jedes vierte Handelsunternehmen in Metaverse-Anwendungen investieren könnte», sagt Philipp Hübner, Projektleiter Forschungsbereich E-Commerce beim EHI.
Das grösste Nutzenpotenzial sieht das EHI Retail Institute für die Branchen Mode & Accessoires, Möbel & Einrichtung, Hobby & Freizeit, Elektrofachhandel und Warenhäuser. Das Nutzenpotenzial für den Lebensmitteleinzelhandel schätzt das Forschungs- und Beratungsinstitut hingegen als vergleichsweise gering ein. «Das muss aber nicht heissen, dass sich Metaverse-Anwendungen für den LEH nicht ebenso eignen können. Das hängt massgeblich davon ab, ob sich Anwendungsszenarien finden lassen, die den jeweiligen Zielgruppen Mehrwerte bieten können», resümiert Hübner. Dazu nennt das Institut folgendes Beispiel: Viele Befragte würden Werbung im virtuellen Raum – also klassische Kommunikationsinstrumente in virtueller statt physischer Umgebung – für ihr Handelsunternehmen nutzen wollen. Wieso sollte ein solches Anwendungsszenario nicht auch für den Lebensmittelhandel Mehrwerte bieten können? Ein Werbeplakat zum Beispiel könnte ebenso gut in einer virtuellen Umgebung platziert werden wie in einer physischen. Mit etwas Kreativität lassen sich laut EHI viele Lösungen entwickeln; so könnten Lebensmittelhändler beispielsweise in einer virtuellen Open-World-Spieleumgebung mit virtuellen begehbaren Einkaufsstätten vertreten sein.
Nutzung auf der Fläche
Branchenunabhängig sind rund drei Viertel der Befragten der Meinung, dass Metaverse spannende Anwendungsmöglichkeiten für den Handel bietet. Mögliche Vorteile für den LEH herauszuarbeiten, ist nach Einschätzung des EHI allerdings wesentlich komplexer als für andere Branchen. Konsumenten in Deutschland sind schliesslich auch vergleichsweise weniger zum Online-Kauf von Lebensmitteln bereit. Im LEH werden für viele Warengruppen Gewohnheitskäufe getätigt, insbesondere frische Ware möchte vom Kunden lieber selbst ausgesucht werden und einige Kategorien – wie zum Beispiel Süsswaren – leben von Impulskäufen. Ohnehin wird ein Grossteil der Kaufentscheidungen im LEH erst auf der Fläche getroffen. «Beim Kauf von Produkten, für die Konsumenten üblicherweise wenig Entscheidungsaufwand betreiben, wird die Nutzungsbereitschaft für stationäre Metaverse-Anwendungen vermutlich geringer ausfallen. Anders gesagt: Wer wird schon beim Kauf einer Banane im Verbrauchermarkt in virtuelle Welten eintauchen wollen?», so die Bewertung des Experten.
Verbesserung des Einkaufserlebnisses
Der LEH tickt auch sehr unterschiedlich. Es existieren verschiedenste Systemformen, Betriebstypen, Standorte, Flächen und Sortimente. Stationär wird sich Metaverse für Innenstadt-Konzepte wie To-go-Stores vielleicht weniger eignen als für grosse SB-Warenhäuser, so eine Einschätzung des EHI. Denn für das Konsumentenverhalten spielen eben Einkaufsmission und Einkaufslaune eine grosse Rolle. Metaverse-Anwendungen innerhalb der Einkaufsstätte werden daher wohl eher für einen gemütlichen Samstagsbummel als für einen schnellen Beschaffungskauf unter Zeitdruck passen. Auf der LEH-Fläche könnte sich Metaverse beispielsweise für eine spielerische Erweiterung der stationären Einkaufsreise eignen. «Auf diese Weise kann sich die Wahrnehmung des stationären Einkaufserlebnisses – und damit die der Händlermarke – verbessern und der Aufenthalt verlängern, was erfahrungsgemäss zu erhöhten Umsätzen führen kann», so ein Fazit von Hübner.
Stationäre Fläche in virtuellem Gewand
«Für den Bereich E-Food sehe ich grössere Potenziale», erklärt der Experte. «Metaverse könnte den Einkauf von Lebensmitteln im Internet mittelfristig für viele Konsumenten deutlich attraktiver machen». Laut EHI haben offenbar Kunden bei einem Lebensmittelkauf vergleichsweise mehr Schwierigkeiten, sich im üblichen Online-Shop-Format zurecht zu finden. In einem virtuellem Metaverse-Store könnte das für alle gewohnte und gelernte stationäre Einkaufserlebnis ins Internet geholt werden. Als Beispiel hierfür nennt EHI Walmart. Der US-amerikanische Einzelhandelskonzern hat bereits erste Versuche in diese Richtung unternommen. «Die Orientierung am virtuellen Regal funktioniert somit genauso wie im Supermarkt. Ausserdem können Lebensmittelhändler auf ihre langjährigen Erfahrungen bei der Flächengestaltung zurückgreifen und die gut erprobten stationären Marketingstimuli in der virtuellen Umgebung anwenden», erklärt Hübner. So lassen sich zum Beispiel die Mechanismen zum Anregen von Impulskäufen auf eine virtuelle Einkaufsstätte übertragen.
Wer beim Einstieg ins Metaverse-Geschäft erfolgreich sein will, sollte daher vor allen Dingen die technologischen Voraussetzungen schaffen, das Personal mit Fachkenntnissen ausstatten und Akzeptanz bei den Konsumenten erzeugen. Dazu braucht es allerdings Mut, Willen und Innovationsgeist sowie die Bereitschaft Ressourcen und auch das entsprechende Budget bereitzustellen. «Nachdem der beste Use Case gefunden wurde, gilt es letztlich den richtigen Zeitpunkt zu wählen, um Metaverse in die Customer Journey sinnvoll zu integrieren», so das Resümee vom E-Commerce-Spezialisten Philipp Hübner.